Weswegen wir wieder lernen sollten, einander zuzuhören
Manch einer wird denken, dass zuhören doch nichts Besonderes ist. Zuhören kann doch jeder! Stimmt das? Viele Menschen halten sich für gute Zuhörer. Das stimmt leider allzu oft nicht, das Gegenteil ist der Fall. Viele von uns sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hören nur bedingt zu und glauben schon im Vorfeld zu wissen, was der Andere sagen wird. Wir sind immer aktiv und ständig erreichbar. Multitasking und das schnelle Pulsieren einer ganzen Gesellschaft lassen uns das passive Zuhören verlernen.
Sie lieben gute Gespräche? Ich auch. Ich liebe Gespräche, in denen ich in die Welt meines Gegenübers – und in meine eigene – eintauchen kann. Mir ist es wichtig, zu verstehen und verstanden zu werden. In einer wirklichen Begegnung können wir sehr viel über den Anderen – und über uns selbst erfahren. Das meint auch die Kurzgeschichte von Leo Tolstoi: Ein Kaiser suchte nach einer Lebensphilosophie und er stellte einem Eremiten die Frage, wer der wichtigste Mensch sei. Der Eremit antwortete ihm: "Der wichtigste Mensch ist immer dein Gegenüber."
Im nachfolgenden Artikel führe ich keine Kommunikationsregeln auf, vielmehr möchte ich zum Nachdenken – und zum Zuhören anregen.
Der Zuhörer ist ein schweigender Schmeichler.
Immanuel Kant
Renaissance des Zuhörens
Kommunikationswissenschaftler beobachten, dass das Hören eine Renaissance erlebt. Aktives Zuhören gilt als Schlüsselqualifikation für Privatleben ebenso wie für den Beruf. Man weiss, dass der Mensch mit dem Ohr dreimal mehr Informationen aufnehmen kann als durch gelesene Informationen. Und trotzdem haben wir verlernt, einander zu zuhören.
Kennen Sie das: Sie sprechen mit einem Menschen und spüren ganz genau, dass er Ihnen nicht wirklich zuhört? Schlimmer noch ist es, wenn er sich einfach abwendet oder sich etwas Anderem widmet. Oder Ihr Gesprächspartner fällt Ihnen, sobald Sie mit erzählen beginnen, ins Wort: "Das kenn ich auch", und erzählt dann von sich, ohne dass Sie zu Ende erzählen konnten. Solche Situationen verunsichern mich zu tiefst und lösen ein komisches Gefühl in mir aus. Ich fühle mich nicht wahrgenommen und unverstanden.
Wenn du redest, wiederholst du nur, was du schon weisst.
Aber wenn du zuhörst, lernst du vielleicht etwas Neues.
Dalai Lama
Ich muss gestehen: auch ich höre nicht immer richtig zu: Jemand spricht zu mir, und schon beginne ich innerlich zu argumentieren, zu bewerten oder zuzustimmen. Ich bereit meine Entgegnungen und Argumente vor. Dabei höre nicht mehr so wirklich zu, da meine Aufmerksamkeit auf meinen Gedanken und nicht mehr bei meinem Gesprächspartner liegt. So kann ich bei ihm nicht zwischen den Zeilen lesen und das Unausgesprochene wahrnehmen.
Das grösste Kommunikationsproblem ist, dass wir nicht zuhören, um zu verstehen.
Wir hören zu, um zu antworten.
Carl Rogers
Erinnern Sie sich an Momo?
Momo konnte zuhören. So, dass ratlose Menschen plötzlich wussten, was sie wollten, oder dass dummen Menschen plötzlich gescheite Gedanken kamen. Sie sass einfach da, fragte nichts, sagte nichts, sie hörte einfach mit all ihrer Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu. Sie schaute dabei ihr Gegenüber mit ihren grossen, dunklen Augen an. Der Betreffende kam dabei auf Gedanken, von denen er vorher nicht ahnte, dass sie in ihm steckten. So hat Michael Ende in seinem Märchenroman "Momo" die Kunst des Zuhörens beschrieben.
Wie aber ist es Momo gelungen, derartige Potenziale in den Menschen zu entfalten? Nicht, indem sie einfach wartet, bis der Sprechende endlich fertig ist. Oder indem sie eine Pause des Sprechenden abwartet, um dann selbst ihre Meinung kund zu tun. Damit der Sprechende etwas Bedeutsames und Wichtiges sagen kann, muss er Raum zum Sprechen haben. Durch intensives Zuhören erhält der Sprecher diesen Raum. Dabei ist aktives Zuhören noch sehr viel mehr, als Blickkontakt, dem sich zuwenden und dem nicht unterbrechen.
Wunsch nach erfüllenden Gesprächen
Das oberflächliche Reden miteinander befriedigt nicht wirklich. Den Menschen fehlt es an Nahrung für die Seele. Sie sehnen sich nach Tiefe. Oberflächliches Geplänkel ist wie Fast Food: es stillt zwar den ersten Hunger, ist aber weder gesund noch nachhaltig. Menschen möchten gesehen, erkannt und verstanden werden. Sie suchen tiefgehende Gespräche. Gute Gespräche sind wie Nahrung für die Seele. Jemand hört zu, interessiert sich aufrichtig für den Menschen und das, was dieser sagt oder erzählt. Ein guter Zuhörer gibt damit zu verstehen, dass sein Gesprächspartner ihm wichtig ist, dass dieser ihn interessiert und dass er eine Bedeutung hat. Es ist ein gutes Gefühl, einen Gesprächspartner zu haben, welcher sich aufrichtig für mich und für das, was ich zu sagen habe, interessiert. Reden ist uns ein Bedürfnis, Zuhören ist eine Kunst. Johann Wolfgang von Goethe
Woran erkennen Sie ein gutes Gespräch?
Haben Sie sich das schon einmal überlegt? Sie kennen ganz bestimmt Gespräche, in die Sie sich gern erinnern, während dem Sie andere Gespräche schon längst vergessen haben. Woran mag das liegen? Was war das Besondere an den Gesprächen, an welche Sie sich noch immer (gern) erinnern? Liegt es daran, dass Sie
- danach ein gutes Gefühl hatten?
- sich bereichert fühlten?
- sich verstanden und gesehen fühlten?
- das Gespräch als einen guten Mix zwischen zuhören und sprechen erlebten?
- Ihren Gesprächspartner besser verstehen?
- und dass Sie sich auch lange Zeit später gern an dieses Gespräch erinnern?
Ich höre sie reden,
aber nichts sagen
Wenn ich über zuhören schreibe, komme ich nicht umhin, auch über das Sprechen, respektive die Art und Weise, wie wir sprechen, zu schreiben.
Wir haben nur einen Mund und zwei Ohren. Trotzdem steht die Nutzung von Mund und Ohren in einem grossen Missverhältnis. Arthur Schopenhauer formulierte das durchaus bissige Zitat: "Viele Worte zu machen, um wenige Gedanken mitzuteilen, ist überall das untrügliche Zeichen von Mittelmässigkeit." Den meisten Vielrednern fällt meistens kam auf, dass nur sie sprechen und selten zuhören. Oftmals führen sie einen Monolog und texten das Gegenüber zu. Sie reden schnell, ohne Punkt und Komma und geben ihrem Gesprächspartner keine Zeit, ein Gefühl für das Gesagte zu entwickeln. Ihr Gesprächspartner fühlt sich schnell überfordert, klinkt sich aus und hört nicht mehr wirklich zu. Wenn ich möchte, dass mein Gesprächspartner mich versteht, muss ich ihm die Zeit geben, das was ich sage, aufzunehmen. Das bedeutet, Pausen zu machen, damit mein Gesprächspartner die Möglichkeit hat, zu verinnerlichen, was ich gerade erzähle. Das Verhältnis von Geschwindigkeit und Information wird durch schnelles Sprechen nicht besser. Im Gegenteil, es überfordert den Zuhörer.
Wenig Worte, viel Wirkung
Möchten wir anderen Menschen wirklich zuhören, sollten wir zuerst lernen, uns selbst zuzuhören und zu beobachten: Welche Gedanken, Gefühle und Bewertungen kommen in uns hoch, welche Reaktionen und Impulse, welche äusseren Reize werden automatisch aktiviert, wenn wir jemandem zuhören? Diese inneren Bewegungen gilt es beiseite zu stellen. Erst dann kann das, was wir hören, bei uns ankommen.
Wer mit wenigen Worten viel aussagen kann, macht jedes einzelne Wort wertvoll. Wenige, aber aussagekräftige Worte bringen Menschen dazu, über das Gesagte nachzudenken und zu spüren, was zwischen den Zeilen steht.
Wir kommunizieren immer – auch wenn wir nichts sagen
Vielleicht kennen Sie den Spruch von Paul Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Selbst wenn wir nichts sagen, kommunizieren wir. Die Sprache bildet nur einen kleinen Teil unserer Kommunikation. In erster Linie kommunizieren wir über unsere Körperhaltung, Mimik, Gestik und auch durch unsere Stimme. Der Körper spricht. Wir senden ständig nonverbale Signale aus. Dadurch verraten wir viel über unser Gefühlsleben.
Solche Botschaften sind nur wahrnehmbar, wenn unsere Aufmerksamkeit ganz auf unserem Gesprächspartner liegt.
Wer Zuhören kann, erspart sich viele Worte.
Ernst Ferstl
Zuhören ist ein komplexer Prozess
Wirkliches Zuhören ist sehr anspruchsvoll und kostet viel Energie. Dies, weil Zuhören ein komplexer Prozess ist, in welchem einige, Elemente berücksichtigt werden müssen, wie z.B.:
- Der Zuhörer muss sich auf die gedankliche Welt des Sprechers einstellen,
- neugierig und konzentriert sein
- und die Bereitschaft haben, sich auf Neues einzulassen.
Zuhören ist nicht nur auf die Ohren beschränkt. Wir nehmen mit verschiedenen Kanälen auf: wir sehen die Haltung, die Mimik und die Gestik des Gesprächspartners. Wir realisieren Unterschiede im Tonfall der Stimme. Die Stimme erzählt mehr über die Befindlichkeit und die Gefühle des Sprechers.
Was ein gutes Gespräch kennzeichnet, sind die Zwischenräume. Zeit...still sein... nachspüren, um wirklich zu verstehen, was der Andere uns mitteilen möchte.
Versetzen Sie sich in eine Situation, in welcher Sie sich wirklich verstanden fühlten. Ich bin sicher, Sie erhielten Raum, Ihr Gesprächspartner hat sich selbst zurückgenommen, er hat Sie wahrgenommen, er hat genau verstanden, wovon Sie sprachen. Dadurch konnten Sie Ihre Gedanken ordnen, und ich kann mir vorstellen, dass Sie plötzlich ganz viel verstanden haben. Hätten Sie sich so verstanden gefühlt, wenn Ihr Gesprächspartner immer wieder von sich erzählt hätte, wenn er bei allem, was Sie sagten, seinen Senf dazu gegeben hätte? Wohl kaum.
Man kann auf eine Art zuhören,
die mehr wert ist als das Gefälligste, was man sagen kann.
Charles Joseph Fürst von Ligne
Raum geben,
still werden
Als Therapeutin kann ich das: ich gebe den Klienten Raum, meine ganze Aufmerksamkeit und Zeit. Zuhören, mich einlassen, mich zurücknehmen, still werden…und bereit sein, ganz in seine innere und persönliche Welt einzutauchen. Ich höre nicht nur seine Worte, ich höre IHN. Für mich ist das wie das Betreten eines heiligen Raumes. In mir ist alles still. Gedanken und Gefühle, welche mich selbst betreffen, treten in den Hintergrund. Ich verlasse meinen eigenen Raum, damit ich über die Schwelle schreiten kann, um in seinen Raum einzutreten.
Wenn in Gesprächen Stille entsteht, fühlt sich das für viele so peinlich an. Die wenigsten Menschen ertragen solche Gesprächspausen. Stattdessen versuchen sie nervös, die Stille mit irgendwelchen Kommentaren zu füllen. Weswegen eigentlich? Wir könnten diese Gesprächspausen zum Nachdenken nutzen, um ein Gefühl für die Situation und den Gesprächspartner zu entwickeln. Ich persönlich liebe solche Momente. Das zu schnelle hin und her überfordert mich. Ich brauche Zeit, um zu verstehen, was mein Gegenüber mir wirklich mitteilen möchte.
In Seminaren benutze ich manchmal einen Sprechstab, um den Redefluss zu verlangsamen, benutzt. Es darf nur derjenige sprechen, welcher gerade den Sprechstab hält. Dadurch entsteht eine andere Dynamik. Die Teilnehmer*innen hören einander zu. Sie beobachten Prozesse anstatt sich nur auf die Inhalte zu konzentrieren und erfahren dadurch viel mehr über ihre Gesprächspartner, und über sich.
Mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht:
Ich liebe die Lakota-Erzählung von Aŋpétu Wašté Wiŋ, weil sie das, worüber ich schreibe, mit wenigen Worten auf den Punkt bringt:
"Wir Indianer wissen um die Stille. Wir haben keine Angst vor ihr. In der Tat ist für uns die Stille mächtiger als Worte. Unsere Ältesten wurden in den Wegen der Stille geschult, und sie haben dieses Wissen an uns weitergegeben. Beobachte, höre zu, und dann handle, sagten sie uns. Das war die Art zu leben. [...]
Weisse Menschen lieben es, zu diskutieren. Sie lassen die andere Person nicht einmal einen Satz beenden. Sie unterbrechen immer. Für uns Indianer sieht das nach schlechten Manieren oder sogar Dummheit aus. Wenn Sie anfangen zu reden, werde ich Sie nicht unterbrechen. Ich werde zuhören. Vielleicht höre ich auf zuzuhören, wenn mir nicht gefällt, was Sie sagen, aber ich werde Sie nicht unterbrechen. Wenn Sie zu Ende gesprochen haben, werde ich mir eine Meinung darüber bilden, was Sie gesagt haben, aber ich werde Ihnen nicht sagen, dass ich nicht einverstanden bin, es sei denn, es ist wichtig. Ansonsten werde ich einfach schweigen und weggehen. Sie haben mir alles gesagt, was ich wissen muss. Es gibt nichts mehr zu sagen.
Die Menschen sollten ihre Worte als Samen betrachten. Sie sollten sie säen und sie dann in der Stille wachsen lassen. Unsere Ältesten lehrten uns, dass die Erde immer zu uns spricht, aber wir sollten schweigen, um sie zu hören. Es gibt viele Stimmen neben der unseren. Viele Stimmen..."
Die Kunst im Zuhören besteht darin,
das Gesagte zu fühlen und das Ungesagte zu spüren.
Unbekannt
Sehnsucht nach Momo
Viele Menschen haben niemanden, der sich wirklich für sie interessiert. Niemand hört ihnen zu, weder zuhause, noch am Arbeitsplatz, oftmals nicht einmal beim Arzt oder Therapeuten. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich eine Momo wünschen.
Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, Momo's in meinem Umfeld zu haben. Und ich arbeite daran, eine Zuhörerin wie Momo zu werden. Und Sie?
Zuhören ist meines Erachtens die mächtigste Form der Zuwendung, weil wir dem Anderen damit zeigen, dass er bedeutsam ist. So beende ich diesen Artikel mit folgendem Sprichwort von Gottfried Keller:
Mehr zu hören, als zu reden – solches lehrt uns die Natur:
Sie versah uns mit zwei Ohren, doch mit einer Zunge nur.