Und wenn ich ein Perfektionist wäre, was wäre daran so schlimm?
Steckt nicht in Vielen von uns der Wunsch nach Perfektion? Perfekt sein zu wollen, ist ein Streben nach Vollkommenheit, was uns zu besonderen Leistungen motiviert und anspornt. Somit ist das Streben nach Perfektion ein sinnvolles Ziel. Oder nicht?
Sobald Perfektion zum Muss wird, wird deutlich, dass das Streben nach Perfektion in einer Endlosschlaufe endet, denn egal was man tut, es ist nie gut genug. Man scheitert an seinen eigenen Ansprüchen.
Was assoziieren Sie zu Perfektionismus? Zwanghafte Persönlichkeiten, Unfreiheit, übertriebenes Bestreben nach Fehlervermeidung oder Streben nach Vollkommenheit?
Obwohl etwas nie perfekt sein kann, streben wir nach Perfektion: der perfekte Körper, die perfekte Figur, die perfekte Familie, das perfekte Haus, der perfekte Apfel etc. Unsere Vorgaben und Ansprüche sind hoch, oder kaufen Sie einen geschrumpelten Apfel? Eigentlich ist es absurd: wir wollen einerseits das Perfekte und andererseits sollte man aufhören, perfekt sein zu wollen.
Was ist Perfektion?
Der Begriff „perfekt“ ist zurückzuführen auf das lateinische Verb „perficere“, was so viel wie „vollenden, herstellen“ bedeutet. Mit Perfektionismus wird heute jedoch etwas Vollkommenes und Makelloses assoziiert, was mit vollenden wenig zu tun hat. Vollenden bedeutet nur, et-was zu Ende zu bringen. Der Weg, wie etwas zu Ende gebracht werden sollte, ist mit „vollenden“ nicht vorgegeben. Etwas perfekt zu vollenden hiesse, dann noch nach dem zu suchen, was fehlen könnte. Aber: „Wer das Haar sucht, dem entgeht die Suppe“.
Bedeutet Perfektion nun Makellosigkeit? Unfehlbarkeit? Der Wunsch es allen recht zu machen – und zwar richtig recht? Was muss erfüllt sein, damit etwas perfekt ist? Wessen Erwartungen müssen erfüllt werden, damit es etwas perfekt ist? Und überhaupt, was haben wir davon, wenn wir nach Perfektion streben? Selbst die Natur ist nicht perfekt: Denken Sie an das vierblättrige Kleeblatt. Es ist eine Laune, ein Fehler der Natur, und wir betrachten es als Glücksbringer. Perfektion per se existiert nicht, es gibt sie nicht.
Perfektionismus ist nicht gleich Perfektionismus
Mich erstaunt, dass viele Therapeuten den negativen Aspekt in den Vordergrund stellen. Perfektionismus wird häufig als Ursache für zahlreiche Symptome wie mangelhaften Selbst-wert, Stress und Burnout etc. angesehen. Sie sehen im Perfektionismus einen Makel. Viele gescheite Ratgeber geben haufenweise Tipps ab, und raten Lesern, den Perfektionismus schnellst möglichst abzulegen.
Ist Alfred Adler mit seiner Meinung daneben gelegen, wenn er perfektionistisches Streben als grundlegenden und gesunden Teil des menschlichen Lebens bezeichnete? Wenn Menschen wie Katharina Witt, Roger Federer, Ian Thorpe etc. nicht die Perfektion anstrebten, wären sie nie erfolgreich geworden.
Perfektionismus kann Menschen zu Höchstleistungen anspornen, während er andere in zwanghaftes Verhalten hineinführt. Perfektion anzustreben kann bedeuten, dass jemand den Anspruch hat, eine Aufgabe gewissenhaft, pflichtbewusst, zuverlässig und korrekt auszufüh-ren. Er fühlt sich gut dabei. Vielleicht trägt genau diese Einstellung zu seinem beruflichen und/oder privaten Erfolg bei. Solche Menschen geben ihr Bestes und sind Experten in ihrem Gebiet, selbst wenn Aufwand und Erfolg nicht in einem adäquaten Verhältnis zueinander stehen. Sie bleiben trotz Arbeit gut gelaunt, und blühen förmlich auf. Sie leben ihren Perfektionismus mit Charme. Catherine Deneuve: „Charme und Perfektion vertragen sich schlecht miteinander. Charme setzt kleine Fehler voraus, die man verdecken möchte.“ Genau dies macht doch solche Menschen liebenswürdig.
Perfektionismus wird dann zum Problem, wenn der Betroffene (und vielleicht auch das Umfeld) darunter zu leiden beginnt, wenn das Ideal zum Muss wird. Das rechte Mass wird nicht mehr erkannt. Wenn Grenzen zwischen gut und perfekt nicht mehr wahrgenommen werden und kein Ende in Sicht ist. Etwas besser, schöner und ein bisschen mehr geht sicher noch… Die Ziele und Anforderungen an sich werden ständig zu hoch gesteckt, was zu Stress und Überforderung führt. Diese Form von Perfektionismus ist zum Scheitern verurteilt.
Niemand wird als Perfektionist geboren. Die Ursachen liegen meist in der Kindheit, in der Art und Weise wie wir aufgewachsen sind. Individuelle Lebenserfahrungen lehren uns, wie hoch wir unsere eigenen Erwartungshaltungen anlegen sollen. Oftmals steckt dahinter ein schwa-ches Selbstbewusstsein. Mit hervorragenden Leistungen kann dieses kompensiert werden. Perfektionismus kann auch eine Abwehrstrategie sein, um Kritik, Beurteilung und damit ver-bundenen Schmerz zu vermeiden. Es ist die Suche nach Bestätigung, da perfektionistisch veranlagte Menschen in der Kindheit für Leistungen und Erfolge gelobt wurden.
„Hab keine Angst vor Perfektion: Du wirst sie niemals erreichen“.
Salvador Dali
Es ist völlig legitim, gut sein zu wollen, sich anzustrengen, etwas besser machen zu wollen, und auch ehrgeizig zu sein. Es ist gut, sein Bestes geben zu wollen, sofern die Grenze zwischen „gut ist gut genug“ und Perfektion erkannt wird. Wie sagte Paracelsus: „Erst die Dosis macht das Gift“.
Wie perfekt muss perfekt sein?
Dennoch stellt sich die Frage, weswegen erfolgreiche Menschen sich als Perfektionist bezeichnen. Ist dies nicht ein Indiz dafür, dass man Perfektionismus nicht einfach pauschal als schlecht abhandeln kann? Diese einseitige Haltung, dass Perfektionismus negativ sei, kann ich nicht teilen. Die Arbeitswelt braucht Perfektionisten, es gibt viele Berufe in denen Perfektion unerlässlich ist.
Ich selbst bin auch eine Perfektionistin. Nicht grundsätzlich, aber in manchen Bereichen schon. Ich liebe Ordnung, saubere Fenster, aufgeräumte Schränke und schön gebügelte Kleider. Auch gebe ich mich nicht mit Mittelmässigkeit zufrieden. Höchstleistung zu bringen, spornt mich an. Und mir geht es gut damit und ich bin überzeugt, dass gerade meine innere Haltung und meine Ansprüche mich erfolgreich werden liessen. An Finessen herumzufeilen, diese bis ins Detail herauszuarbeiten, bereitet mir einfach Freude, auf diese Art und Weise schreibe ich meine Seminarskripte. Da häufen sich Büchertürme auf meinem Schreibtisch, eine Unordnung mit System. Denn sie liegen hier in einer bestimmten Reihenfolge und sind mit Markern versehen. Die Reihenfolge der Bücher ergibt sich aus den für das Skript vorgesehenen Kapiteln. Viel Vorarbeit mit System bilden für mich die Struktur zum Arbeiten. Diese Struktur gibt mir Sicherheit und ein gutes Gefühl.
Wie treffend dazu ist folgende Metapher: Ein Mann geht im Wald spazieren. Nach einer Weile sieht er einen Holzfäller, der intensiv und sehr angestrengt einen Baumstamm zersägt. Er stöhnt und schwitzt und hat offensichtlich viel Mühe mit seiner Arbeit. Der Spaziergänger tritt etwas näher heran und erkennt schnell die Ursache und sagt zum Holzfäller: "Guten Tag. Ich sehe, dass Sie sich Ihre Arbeit unnötig schwer machen. Ihre Säge ist stumpf - warum schärfen Sie sie nicht?" Der Holzfäller schaut nicht einmal hoch, sondern zischt nur durch die Zähne: "Ich habe keine Zeit, die Säge zu schärfen. Ich muss sägen.“
Gut – besser – perfekt:
wichtig ist ein gesundes Mittelmass. Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, unser Zeitgeist verlangt: „Nichts ist unmöglich“. Das klingt toll und positiv, dem ist auch nichts entgegenzusetzen. Viele von uns sind so geprägt, ihre Möglichkeiten voll auszukosten und bestmöglich zu nutzen.
Die Konsequenz davon sind völlig überzogene Erwartungen an uns selbst. Wir werden bereits in der Schule nach unseren Erfolgen bewertet. Die logische Schlussfolgerung daraus ist, der Versuch, gut oder besser noch perfekt zu sein. Das Gefühl für das gesunde Mittelmass geht verloren: gut ist nicht mehr gut genug. Perfektionismus kann Antreiber und Bremse zugleich sein. Der Antreiber spornt uns für tolle Leistungen an und gleichzeitig übt er enormen Druck aus.
Multitasking:
Hemmnis für richtig gute (perfekte) Ergebnisse Anerkennung verschafft uns einen Platz in der Gesellschaft. Verknüpfen wir Leistungen unmittelbar mit unserem Selbstwert, leben wir in ständiger Angst davor Fehler zu machen. Dies erzeugt Stress. Unter Stress erhöht sich jedoch die Fehlerquote.
Früher wurden Menschen, welche mehrere Dinge gleichzeitig begannen, Chaoten genannt. Heute bezeichnet man dies als Multitasking. Multitasking-Menschen werden gelobt und sind sehr gefragt. Man weiss jedoch aus neurobiologischer Sicht, dass Multitasking nicht möglich ist, weil sich das Gehirn normalerweise nur auf eine komplexe Tätigkeit konzentrieren kann. Zu viele Tätigkeiten gleichzeitig schmälern die Aufmerksamkeit und erhöht eben die Fehlerquote.
Mut zur Unperfektion
Ist der Perfektionismus sehr ausgeprägt, kann dies nicht einfach so von heute auf morgen geändert werden. Dieses Muster wurde über viele Jahre kultiviert und gelebt. Es ist als Denken, Handeln und Fühlen tief verwurzelt.
Wer will denn schon unvollkommen sein? Natürlich niemand. Nur, Unvollkommenheit ist nicht das Gegenteil von Vollkommenheit. Viel eher ist Unvollkommenheit die Befreiung vom Perfektionismus, Druck und Zwang. In vielen Ratgebern ist zu lesen, dass man loslassen müsse. Das würde aber bedeuten, dass man sich mit seiner Unvollkommenheit anfreunden müsste. Unvollkommen zu sein ist kein Makel, sondern eine Qualität. Wenn jedoch eine innere Instanz uns immer wieder antreibt, etwas noch besser zu machen, ist es schon nicht mehr so einfach: es braucht Mut, unvollkommen(er) zu sein.
Spass trotz(t) Perfektionismus
Es geht nicht darum, von einem Extrem ins andere zu kommen. Es geht ums richtige Mass. Sich von dem, was zu sehr anstrengt und unter Druck setzt, zu befreien, mehr in die Leichtigkeit zu gehen, und Mut zur Lücke zu haben.
Perfektion ist der grösste Makel, denn wer alles kann, kann nichts mehr werden.
Maik Alwin
Ich habe gelernt, zu mir und meinen Ansprüchen zu stehen: ich bin ein Perfektionist. Solange ich jedoch Spass an meiner Art, Dinge anzupacken und zu vollenden habe, sehe ich keinen Handlungsbedarf. Dass das Glück sich nicht mit dem Erfolg einstellt, habe ich längst verstanden. Glück stellt sich ein, wenn mich das, was ich tue, erfüllt, beflügelt und einfach zufrieden macht. Meine eigenen Ansprüche betrachte ich als kreative Herausforderung, sie machen mir Spass. Daran kann ich wachsen und vorwärts kommen. Jetzt bin ich an diesem Punkt angelangt, an dem sich dieses Gefühl von Zufriedenheit einstellt. Egal, ob etwas nun perfekt ist…