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1 Jahr Coro na ja

1 Jahr Coro na ja

Meine ganz persönlichen Erfahrungen mit Corona

Wie ich es schaffe, dass aus dem lock down kein knock down wird

Eigentlich möchte ich nicht schon wieder über Covid-19 schreiben. Im Rahmen von wöchentlichen Blogthemen, welche von Judith Sympatexter aufgegriffen werden, tue ich es (trotzdem). Ich werde über Covid-19 ganz bestimmt nicht schreiben, was Sie sowieso schon wissen und auch überall nachlesen können. Vielmehr schreibe ich von mir, ganz persönlich. Mir ist bewusst, dass lange nicht alle Menschen so viel Glück haben, wie ich. Denn ich habe Arbeit, ich bin gesund, ich bin privilegiert, weil ich keinen finanziellen Mangel erleide.

Wohin die Pandemie uns führt, die gesellschaftlichen Konsequenzen und Auswirkungen sind Fragen, welche mich durchaus beschäftigen.

Im falschen Film

Im Dezember/Januar 2019/20 war ich in Burma. Dort hörte ich von Covid. Man wusste da noch nicht so genaues darüber. Irgendwie  war es auch noch sehr weit weg. Wieder zurück in der Schweiz, erscheinen  Berichte aus Italien, etwas später aus Spanien. Die Berichte waren erschreckend, aber irgendwie war es noch immer weit weg. Und dann, ganz schnell, plötzlich ist alles da. Die Schweiz befindet sich im Ausnahmezustand. Manchmal kann ich noch jetzt, ein Jahr später, nicht wirklich fassen, was da über uns alle hereingebrochen ist. Es scheint mir oft immer noch surreal. Ich habe oft das Gefühl im falschen Film zu sein. Das dies alles ein Alptraum sei, aus dem ich bald erwache. Dem ist nicht so, der Alptraum ist Realität und konfrontiert mich mit Konsequenzen.

2020 war kein normales Jahr und weit weg vom normalen Leben

Wir mussten und müssen auf vieles, was uns lieb und wichtig war, verzichten. Viele sind verzweifelt, fürchten sich und versinken in düsteren Gedanken. Wieder andere haben vieles, oder fast alles, verloren. Während sich einige Menschen sehr solidarisch zeigen, verhalten sich andere Menschen egoistisch. So wie es immer ist.

Ich erinnere mich an Gespräche mit einer Tante aus Österreich, welche den Krieg miterlebt hat. Sie hat einige Erlebnisse erzählt. Zum Beispiel, wie sie mit ihrer Familie und Nachbarn während des Bombenalarms sich auf engstem Raum verharren mussten. Ich fragte sie, wie sie das erlebt hat. Und ob sie trotz allem Freude oder Leichtigkeit erleben konnte, oder wie sie Sommer erlebt hat. Ihren Antworten konnte ich wieder entnehmen, dass sie dennoch ihr Leben lebte, mit Freude, mit Spass, mit jung sein etc. Aber auch, dass viele Dinge nicht selbstverständich waren und dass sie gezwungen waren, zu improvisieren und kreativ zu sein. Sie lebten im Moment, die Unsicherheit gehörte zum Leben. Ich frage mich, wie sie trotzdem an eine Zukunft glauben konnte. Wie geht das? Sie sagte mir auf diese Frage oft: "die Zukunft ist das einzige, was wir hatten".

Mir ist es nie wirklich gelungen, mich so ganz in die Situation von damals hineinzuversetzen. Erst jetzt beginne ich allmählich ein Gefühl dafür zu bekommen, was alles in ihr vorgegangen sein mag. Im Krieg kannte man den Feind. Er war sichtbar. Jetzt kämpfen wir gegen ein kleines unsichtbares und unberechenbares Virus. Mir helfen die Erzählungen meiner Tante. Vor allem, wenn ich traurig bin, kann ich aus ihren Erzählungen Kraft schöpfen.

Loslassen statt loshassen

Manchmal hasse ich das blöde Virus. Hasse es, weil es unser aller Leben einfach so durcheinander bringt. Dieser "Hass-Teil" ist jedoch viel kleiner, als jener Teil, welcher sich fragt, was ich, was wir, lernen sollten/könnten.

Loslassen ist angesagt.
Das Leben ist im stetigen Wandel, ich auch. Schon immer habe ich mich mit Fragen, welche neue Lebensphasen betreffen, beschäftigt?

  • Wie wird mein Leben sein, wenn die Kinder zu Hause ausziehen?
  • Wie wird mein Leben sein, wenn ich mich selbstständig mache und die Sicherheit einer Arbeitsstelle aufgebe?
  • Wie wird es sein, wenn mein Mann pensioniert ist?
  • Und wie wird es sein, wenn ich selbst pensioniert bin?

Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen haben mir immer geholfen, dass ich den neuen Lebensabschnitt nicht als Sprung ins kalte Wasser erlebte. Ich wusste: damit etwas Neues entstehen kann, muss ich etwas Altes loslassen. Dem sage ich Entwicklung. Mir über die neuen Lebensabschnitte Gedanken zu machen, hat Spass gemacht, weil es kreative Prozesse sind. Ich konnte "gestalten", weil mir soviele Möglichkeiten zur Verfügung standen. Die neuen waren jedoch nie geprägt von Reduktion oder von "etwas nicht mehr tun zu können". Es waren immer Wechsel mit vielen Möglichkeiten.
Jetzt bin ich 65, und da kommen, ausgelöst durch die Pandemie, ganz andere, neue Gedanken. Darauf komme ich noch später zurück.

Da waren jedoch nie – oder nur sehr selten – Gedanken dabei, welche ein nicht vorherbares Ereignis mit einbezogen. Solche Gedanken habe ich weit weg von mir geschoben. Es war alles absehbar und planbar. Als Grundlage galt, so stelle ich jetzt ziemlich betroffen fest, die Selbstverständlichkeit.
Wenn ich alt bin, habe ich Erspartes und Rente, wenn die Kinder ausziehen, habe ich meine Arbeit. Wenn ich pensioniert werde, habe ich Hobby's, etc.

Ich habe losgelassen, aber nicht, weil ich musste, sondern weil ich wollte. Ich konnte (mit)bestimmen. Was für ein Trugschluss: ich hatte einfach Glück. Glück, nie meine Arbeit zu verlieren, Glück, nie schwer krank zu sein, Glück, immer gute Menschen um mich herumzuhaben etc. Damit sage ich nicht, dass ich in meinem Leben nicht auch sehr schwierige Situationen meistern musste. Aber auch hier hatte ich Glück: ich war und bin ein Stehaufmännchen. Auch das ist nicht selbstverständlich.

Selbstverständlichkeit ist ein grosser Irrtum

Das Normale ist schon längst selbstverständlich geworden, was zählt ist das Aussergewöhnliche. Ein gefährlicher Weg, denn auch das Aussergewöhnliche wird irgendwann wieder selbstverständlich normal. Dass ich morgens mit warmen Wasser duschen kann, ist nicht selbstverständlich. Dass ich mich informieren kann, sei es über Zeitungen, Internet oder Bücher, ist nicht selbstverständlich. Ich lebe in einem demokratischen Land und darf wählen und meine Meinung äussern. Das ist auch nicht selbstverständlich. Bei all diesen Dingen denke ich nicht bewusst darüber nach, dass sie eben nicht selbstverständlich sind. Ich mache mir auch keine Gedanken darüber, was dahintersteckt, dass ich genügend sauberes Wasser zur Verfügung habe. Ich könnte all dies noch beliebig fortsetzen.

Wir haben uns nur daran gewöhnt und glauben, dass wir uns auf das, was selbstverständlich scheint, für immer verlassen können. Das ist eine grosse Illusion. Das zeigt auch die Pandemie.

Solange wir etwas für selbstverständlich halten, ignorieren wir es, weil wir die Wertschätzung dafür verlieren. Ich betrachte eine zuvorkommende Bedienung, sauberes Leitungswasser, einen gesunden Körper, liebevollen Partner etc. nicht als selbstverständlich, sondern vielmehr als ein Geschenk. Ich weiss von meiner Tätigkeit in Tansania, dass all das, was ich hier als selbstverständlich betrachte, jederzeit zusammenbrechen kann.  Und ich weiss auch, wie schnell das gehen kann. Das zeigt auch die Pandemie.

Denke reich, werde reich

Das mag für den äusseren Reichtum auch stimmen, ich denke jedoch an den inneren Reichtum. C. zeigt auf, wie vergänglich Dinge, welche wir als sicher betrachten, sind. Die Herausforderung besteht darin, äussere Reduktion in inneren Reichtum zu wandeln.

Da kommt mir eine andere Tante in den Sinn, sie wurde fast 100 Jahre alt. Die letzten sechs Lebensjahre verbrachte sie praktisch blind und fast taub. Geistig war sie nach wie vor sehr präsent. Für mich war das ein Rätsel, wie sie so demütig damit umgehen konnte. Sie sagte immer, dass sie dies als Möglichkeit sähe, ohne äussere Ablenkung mit sich selbst in tiefen inneren Kontakt zu kommen. Sie betrachtete das als Aufgabe und als Herausforderung. Ich spürte, dass sie dies zutiefst auch lebte, dass dies nicht einfach nur Aussagen war.

Ich wünsche mir, dass ich so mit dem, was auch immer auf mich zukommt, umgehen kann. Zugegeben, manchmal kommt schon etwas Unsicherheit, vielleicht auch Angst auf. Wie wird es sein, wie werde ich damit umgehen, wenn ich zwar wieder in neue Lebensabschnitte komme, diese jedoch mit (aus meiner jetzigen Sicht) mit Reduktion verbunden sind? So ähnlich ist es mit C.
C. kam plötzlich, niemand konnte sich vorbereiten. Für jeden bedeutet es Reduktion. Ob alt oder jung.

Die wenigsten haben sich Gedanken über die Vergänglichkeit gemacht. Viele waren/sind abhängig von ganz bestimmten Ausrichtungen, seien dies Hobbys, seien dies Beziehungen, sei dies der Alltag schlechthin, etc. Fällt dann weg, was wir als sicher betrachteten, fällt ein Kartenhaus zusammen und macht einer Orientierungslosigkeit Platz.

So geniesse ich umso bewusster und dankbar die Möglichkeiten, welche ich habe. Mit dem Wissen, dass auch dies vergänglich ist. Ich möchte mich vorbereiten.
 

Hab keine Angst vor einen Neuanfang.
Diesmal fängst du nicht bei Null an, sondern mit Erfahrung.

Unbekannt

Haben wir etwas verpasst?

Ich für mich kann sagen: ich habe fast etwas verpasst. Nämlich die Auseinandersetzung mit dem, was ich als selbstverständlich betrachte und auch den Miteinbezug der Vergänglichkeit. Auch habe ich die Qualität des im Moment Seins neu entdeckt. (NIcht immer, aber immer öfter...)
Die Herausforderung besteht darin, bei mir zu bleiben und mich nicht von düsteren Gedanken verrückt machen zu lassen. Und dennoch nicht zu ignorieren, was geschieht.

Gedanken über Zukunft

Veränderungen sind nicht zu verhindern. Durch die Krise wurden die digitalen Angebote und Möglichkeiten erweitert. Das setzt meines Erachtens viel neue und positive Möglichkeiten frei. Aber auch dies hat eine Kehrseite.

Mir kommen grosse Bedenken, wenn viele Aufgaben der sozialen Arbeit, wo der persönliche Kontakt wichtig ist, und wo es ein besonderes Vertrauensverhältnis braucht, nun durch Zoom oder Skype ersetzt werden. Ebenso auch therapeutische Ausbildungen, welche online durchgeführt werden. Sicher, es ist bequem, billiger und einfacher, aber es ersetzt niemals den persönlichen Kontakt.

Für mich persönlich ist ganz klar: solange ich therapeutische Ausbildungen anbiete, werde ich dies im Präsenzunterricht tun. Solange ich mit Menschen arbeite, werde ich dies auch im direkten Kontakt tun. Sicherlich haben Zoom oder Skype etc. wertvolle Dienste erwiesen, damit Menschen sich überhaupt an einen Therapeuten wenden konnten. Aber ich höre und lese immer wieder, dass Therapeuten und Ausbildner bei online-Therapie oder online-Ausbildung bleiben.

Auch aus Distanz kann Nähe entstehen

Das menschliche Miteinander und gesellschaftliche Zusammenleben wird auf eine harte Probe gestellt. Distanz, Distanz, wahrt Distanz! Das ist das Credo der jetzigen Zeit. Und es ist richtig, auf äussere "Distanz" zu gehen.

Ich mache die Erfahrung, und so kann ich es auch bei anderen beobachten, dass diese erzwungene Distanz eine Nähe schafft: Nähe zu uns selbst, zur Familie, zu Haustieren, zur Natur etc.? Liegt darin nicht eine grosse Chance? Eine Chance, dass wir uns auf uns rückbesinnen, dass wir uns auf das Wesentliche(re) besinnen, und dass wir von äusseren Ablenkungsmöglichkeiten unabhängiger werden.

Sicher, ich vermisse die Umarmungen, das Händeschütteln und das nahe Miteinandernd. Und wie!!! Immer wieder spricht man hört von "sozialer Distanz" und wie schwierig das sei. Das bestreite ich auch nicht. Aber: war die soziale Distanz nicht schon vor C. spürbar? Machte sie sich nicht schon längere Zeit in der Gesellschaft bemerkbar?

Ich bin nicht bereit, alles auf die körperliche Nähe zu reduzieren. Wenn jemand seinem Nachbarn die Einkauftasche vor die Tür stellt, ist das Ausdruck von Nähe. Wenn ich mit einem Menschen mit einer äusseren Distanz von zwei Metern ein Gespräch führe, ist das für beide Seiten nahe und verbindend.

Das möchte ich noch loswerden: "Nettikette"

Nein, es ist kein Schreibfehler. Ich meine "nett" und "Etikette". Schwierige Zeiten geben keine Berechtigung für einen Umgang, wie ich ihn vor allem in Facebook und Co, feststellen kann. Mir fällt auf, dass viele Menschen intolerant zu sein scheinen, während andere, welche nicht gleicher Meinung sind, diffamiert werden. Ich meine damit nicht die Trolle, welche einfach immer austeilen. Ich meide sie, weil sie ironisch und albern sind. Selten schalte ich mich in Diskussionen ein. Diese fände ich an und für sich spannend und interessant, solange der Tonfall höflich bleibt.

Manchmal habe ich das Gefühl, es herrscht "Krieg der Sterne". Jede "Partei" glaubt recht zu haben und versucht, die anderen zu überzeugen und zu bekehren. Kann man nicht seine Meinung einfach anständig äussern? Ich staune, was da oft für ein Umgangston herrscht.

Ich lehne mich da gelassen zurück und beobachte das Geschehen. Eigentlich wissen wir noch immer wenig über C., also kann es doch nicht darum gehen, wer Recht hat oder nicht. Wer sich impfen lassen will, soll das tun können. Wer sich nicht impfen lassen will, soll das ebenso tun können. Dies sei jedem selbst überlassen.

Wir alle wollen doch dasselbe: schnellstmöglich wieder in einen einigermassen normalen Alltag zurückzukehren. Das schaffen wir nur, wenn wir an einem Strang ziehen. Dabei geht es nicht darum, mache ich das gern – oder eben nicht. Es geht darum, dass alle jene, welche sich nicht an Massnahmen halten, das verhindern, was sie am meisten möchten: Freiheit. Für mich zählen, in solchen Zeiten noch viel mehr, Solidarität und Gemeinschaftsgeist.

Heute hatte ich eine Begegnung mit einer Frau: wir waren mit unserem Hund unterwegs. Sie blieb, als sie uns sah, stehen. Wir nahmen den Hund an die Leine, weil sie Angst hatte. Wie oft hört man doch, in solchen Situationen die blöde Aussage: "Mein Hund tut nichts". Wenn jemand Angst hat, nützt ihm so eine Aussage wenig und es ist keine Sache, den Hund anzuleinen. So ähnlich sehe ich das mit Corona. Ich vermisse Akzeptanz von beiden "Seiten".

Abstrus wird es für mich einfach dann, wenn tatsächlich Menschen in der Schweiz das Gefühl haben, dass die Regierung eine Diktatur anstrebt. Ich habe Länder bereist, und ich arbeite in einem Land, wo genau das geschieht. Bei uns werden weder Internet noch andere Medien gesperrt, und wir kommen auch nicht ins Gefängnis, weil wir eine eigene Meinung vertreten.

Wie wäre es mit mehr Toleranz und Verständnis?

Fazit

Im Innen wie im Aussen bin ich Beobachter

Wegen, oder dank der Pandemie, habe ich einen neuen Zugang zu mir gefunden: Bei mir zu bleiben, im Moment zu bleiben und dennoch nicht auszublenden, was auf mich zukommen wird: das Alter und viele Dinge, die ungewiss sind. ich möchte mich dahin entwickeln, dass ich das Alter nicht nur als Reduktion zu betrachte (das ist es naturgegeben ein Stück), sondern ich möchte es auch als Wachstumspotenzial anderer Art erleben.

So, wie es vor der Pandemie war, wird es nie mehr sein. Das ist Fakt. Ich wünsche mir, und uns allen, gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.
 

Eine Krise kann eine Chance sein,
man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.

Max Frisch