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Sanftmut - mein Motto für 2021

Mein Motto für 2021:

Sanftmut

2020 war mein Jahresmotto: “Don’t push the river, it flows by itself.”

Jetzt, 2021, zeigt sich, dass dies mehr als nur ein Motto war: es hat sich umgesetzt: privat wie beruflich war es ein unglaublich erfüllendes und reiches Jahr. Ich bekam ein Gefühl dafür, dass Dinge sich ohne mein aktives Dazutun entwickeln (dürfen), dass ich dem Leben, der Welt – und mir – vertrauen darf.

Aus diesem Grundgefühl heraus entstand das Motto für 2021:

“Nichts ist so stark wie Sanftmut, nichts so sanft wie wirkliche Stärke"

Keine ambitiösen Ziele

Ich fühle mich so, wie wenn ich auf einem Berg stehen und auf den Fluss hinunterschauen würde. Er hat genügend Wasser, ich weiss, dass er ohne mein dazutun fliesst. Er bringt mir äussere Kreativität, Freude, Herausforderungen, aber er birgt auch die Gefahr, mich darin zu verlieren und zu verzetteln. Ich spüre, dass es in diesem Jahr nicht um irgendwelche ambitiösen, ehrgeizigen beruflichen oder sportlichen Ziele geht. Mir fehlt der Kern… so ist mein Gefühl. Nur, was macht den Kern aus? Tief in mir drinnen habe ich ein vages Gefühl dazu…aber lassen Sie mich von vorn beginnen:

Sinnfragen

Eigentlich hätte ich einfach geniessen können. Aber da war Corona. Das machte etwas mit mir. Ich wunderte mich über Menschen, verstand sie oft auch nicht, ärgerte mich über sie und war wütend. Über Andere und über mich. Über mich, weil ich mich über Andere ärgerte. Über Andere, weil ich Respekt, Achtsamkeit und Toleranz vermisste. Ich hatte viele «warum» und «weswegen» in mir. Dabei ist mir das Zitat von Octavio Paz in den Sinn gekommen:

«Man stellt sich im Laufe des Lebens immer dieselben Fragen.
Was sich ändert, sind die Antworten».

Stimmt. Und was sich auch ändert, sind Prioritäten und Bedürfnisse. Die Fragen, respektive die Antworten, zwangen mich, mich zu reflektieren. Mich hat erschüttert, festzustellen, wieviel Energie es mich kostet, wenn ich mich aufrege und nerve. Es beginnt in mir zu köcheln, wenn ich Ungerechtigkeit, Respektlosigkeit und Unachtsamkeit erlebe, ganz egal ob anderen oder mir selbst gegenüber.

Letztendlich ist dies verpuffte Energie. Energie, welche ich sinnvoller einsetzen könnte. So stellte sich mir die Frage, ob ich einfach gleichgültiger werden und mehr wegschauen sollte. Nur, das bin ich nicht.
Dann träumte ich eines nachts von Ruanda, von den Gorilla’s. Ich wusste, DAS ist die Antwort auf meine Frage: Der Schlüssel liegt in der Sanftmut. Jetzt sitze ich da, und versuche in Worte zu fassen, was damit gemeint ist. Ich kann es nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Aber mit inneren Bildern.

Begleiten Sie mich auf (m)einer Reise

… in die Virunga-Mountains in Ruanda. Nein, es folgt keine Reiseberschreibung. Ich möchte Sie zu dieser Reise einladen, um Ihnen zu vermitteln, was ich mit Sanftmut meine.

Ruanda ist ein wunderschönes Land. Während der Osten des Landes mehrheitlich aus Steppen und Seenlandschaften, das Zentrum von sanften Hügeln besteht, ist der Westen eher bergig. Der Westen von Ruanda ist auch Teil des ostafrikanischen Grabenbruchs. Im Norden befinden sich im Grenzgebiet Ruanda’s Uganda, der Kongo und die berühmten Virunga Vulkane, (bis zu 4507 m hoch) der Heimat der letzten Berggorillas.

Diese in ihrer natürlichen Umgebung erleben zu dürfen, ist mein grosser Traum. Vor mir erstreckt sich ein fruchtbares, grünes Tal mit terrassenartigen Feldern, aus welchem die Vulkane der Virunga-Bergkette in den Himmel ragen. Eine der mystischsten Landschaften, welche ich je gesehen habe.

 

Gut ausgerüstet machen wir uns auf den Weg. Mit gut ausgerüstet ist gemeint, dass wir, trotz 25 Grad C dicke Jacken tragen, um uns vor den langen Stacheln der meterhohen Brennnesseln, welche sich durch fast jedes Kleidungsstück bohren, zu schützen.

Unsere Gruppe, welche wir besuchen werden, ist ziemlich weit entfernt. Macht nichts, ich habe eine gute Kondition. Und das Abenteuer ruft. Matsch, Schlingpflanzen, Dickicht, rutschige Steine, klettern und kriechen, alles ist inbegriffen. Bin ich froh, habe ich die empfohlenen Handschuhe dabei, denn um Halt zu bekommen, muss ich mich immer wieder an dornigen Ästen festhalten, damit ich nicht dauernd auf dem Hosenboden die mühevoll erklommenen Meter hinunterrutsche.

Dennoch: der Regenwald mit seinen Gerüchen und Geräuschen ist faszinierend. Die unglaubliche Vielfalt von Pflanzen, Insekten, Vögeln begeistern mich. Wir werden von Rangern und Fährtenlesern geführt. Die Gorillas bewegen sich und suchen sich jeden Tag einen neuen Platz für ihr Nachtlager. Wussten Sie, dass Gorillas auf den Bäumen Nester für ihr Nachtlager bauen?

Wir wissen nicht, wann und ob wir sie überhaupt finden würden. Was mich eigentümlich berührt, ist die Tatsache, dass wir eine Gruppe besuchen werden, in welcher Gorillas leben, welche von Dian Fossey beobachtet wurden. Es ist wie im Film «Gorillas im Nebel». Und nun werde ich das vielleicht selbst erleben.

Die ultimative Begegnung

Wir haben Glück. Vier Stunden im unwegsamen Gelände zu "wandern" haben sich gelohnt. Zuerst hören wir nur ein leises, brummendes Geräusch. Man muss die Distanz von 7m zu den Gorillas einhalten, was die Gorillas herzlich wenig kümmert.
Hoher, dichter Bambuswald und dichtes Gebüsch verunmöglichen zu sehen, wer oder was gerade vor einem ist. Und dann steht er vor mir: ein Silberrücken. Das Denken hört auf, ich vergesse fast zu atmen, die Tränen laufen mir hinunter – ich bin einfach überwältigt. Kein Fluchtreflex, keine Angst – ich fühle mich total sicher.
Der Ranger hinter mir bringt mir das «Geräusch» der Gorillas bei: M-Hrrrrrrhm... M-Hrrrrhm…
Er fordert mich auf dem  Silberrücken in die Augen zu schauen. Was ich tue. Ich fühle mich magisch in den Bann gezogen. Der Silberrücken legt sich dann etwa 4m vor mir ins Gras und schaut mich weiter an. Eine gefühlte Ewigkeit, einfach nur schauen – im Kontakt sein.
Worte vermögen nicht auszudrücken, was da gerade stattfindet. Es ist mir nicht möglich, das Glücksgefühl und die Ehrfurcht wiederzugeben, welche ich empfinde.

Der Ranger fordert mich auf, einen Finger an meine Lippen zu führen, was ich ganz langsam tue. Und der Gorilla tut es auch…ich kann es kaum fassen.

Familienidylle im Regenwald auf 3000 m Höhe

Irgendwann realisiere ich, dass wir uns inmitten einer Gruppe befinden. Ich sehe eine Gorilla-Mutter, wie sie zärtlich und liebevoll ihr Baby stillt, ich sehe, wie andere Gorilla's miteinander spielen, wieder andere knabbern selbstvergessen an einem Pflanzenstengel, die jungen Gorillas versuchen sich im Kräftemessen zu überbieten. Sie spielen, dösen, mampfen genüsslich den saftigen Bambus und lassen sich von uns nicht stören.

Einfach nur überwältigt

Schlammverkrustet, dreckig und verkratzt treten wir völlig überwältigt den Heimweg an.  Zurück in eine andere Welt, so als wäre es nur ein Traum gewesen. Für mein Gefühl verlasse ich gerade die "richtige Welt".
Glücklich darüber, noch ein zweites Gorilla-Trekking machen zu dürfen, fällt es mir diesmal nicht ganz so schwer. Noch immer finde ich keine Worte. So viel geballte Kraft und so viel Sanftmut. Ich fühle mich gerade so, als hätte ich die Essenz des Lebens gefunden. Ich frage mich, ob "Sein" wohl diesen Zustand ausdrückt?

Sanftmut - die unterschätzte Stärke

Die Erlebnisse mit den Gorillas wirken nachhaltig. Ich weiss, dass ich das, was ich dort im Aussen erleben durfte, in mir drin finden möchte. Klar ist, dass ich nicht einfach einen Schalter umlegen kann. Klar ist aber auch, dass das es mir nicht guttut, mich aufzuregen und zu nerven.

Sanftmut ist mehr als nur eine Charaktereigenschaft. Sanftmut setzt dem ungeduldigen Handeln und der daraus resultierenden Gereiztheit und Aggressivität einen Gegenpol. Mir scheint es erstrebenswert, Achtsamkeit, Wertschätzung und Respekt zu entwickeln. So ist Sanftmut meines Erachtens kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke und Souveränität. Denn nur starke Menschen können Sanftmut leben. So ist meine feste Überzeugung.

Schon Aristoteles beschreibt Sanftmut als Tugend im Hinblick auf den Umgang mit Empörung, Zorn und Wut. Ein sanftmütiger Mensch kann und darf sehr wohl wütend werden, aber der Situation angemessen. Sonst ist ein sanftmütiger Mensch eher unaufgeregt und lässt nicht seinen Emotionen einfach freien Lauf. Insofern war Covid19 ein guter Lehrer für mich, respektive die Menschen.   

Für mich bedeutet Sanftmut nicht, dass ich alles mit mir geschehen lasse, es geht nur um das richtige Mass. Ich möchte meine Wut beherrschen lernen anstatt von ihr beherrscht zu werden.

Und noch was affiges - oder doch nicht?

Kennen sie die drei weisen Affen von Nikko? Bestimmt kennen Sie diese. "Nicht sehen, nichts hören, nichts sagen." Sie werden oft als Emojis benutzt. Heute wird ihre Bedeutung so gedeutet, dass man die Augen vor Etwas / der Wahrheit verschliesst. Die ursprüngliche Bedeutung ist jedoch eine andere: «Man schaut über das Schlechte hinweg». Dies nicht im Sinne des Ignorierens, sondern im Sinne von Grosszügigkeit, Weisheit und Optimismus. Der Ursprung der drei weisen Affen ist nicht komplett ergründet, aber sie sollen aus Japan stammen und werden dem Buddhismus zugeordnet. Man sagt über die weisen Affen von Nikko, dass sie den Göttern alles, ausser das Schlechte, welches Menschen tun, erzählten.

Vielleicht sollte ich den drei Affen nachmachen. Kann es sein, dass ich die Menschen etwas zu kritisch betrachte, dass ich lernen sollte, "fünf gerade sein zu lassen". Damit wäre ein Anfang geschaffen... und wer weiss, wohin dieser Weg mich führt?

Ein Plädoyer für Sanftmut

Sanftmut ist gezügelte Kraft. Zum Beispiel kann ein sanftmütiges Pferd, welches seine Kraft vom Reiter in die richtige Richtung lenken lässt, durchaus temperamentvoll sein. Mit einem «sanftmütigen» Wind kann man segeln, während ein Orkan alles versenkt. So gesehen ist Sanftmut die Fähigkeit, seine eigene Kraft zu lenken und so zu kontrollieren, dass die Kraft nicht zerstört, sondern Gutes bewirkt.

Ärger entsteht durch Ärger, sowie Feuer durch Feuer/Hitze entsteht. Die Sanftmut kann hitziges Aufeinanderprallen verhindern. Dadurch kann ein konstruktiver Funke gezündet werden. Arun Ghandi hat ein Buch mit dem Titel «Sanftmut kann die Welt erschüttern» geschrieben. Wenn ich an Mahathma Ghandi denke, kann ich das sehr gut nachvollziehen.
Sanftmut ist eine Tugend und beschreibt eine konstante Form eines Grundverhaltens. Sie beschreibt eine innere Haltung, welche mit Qualitäten wie Integrität, Kooperationsbereitschaft und Einfühlungsvermögen verbunden ist. Sie ist kontrollierte Kraft, Geduld, Besonnenheit und Grosszügigkeit und zeichnet sich durch Grossmut und Demut aus.

Mut zu Sanftmut

Ein persisches Sprichwort besagt: «Auf der Tafel der Sitten ist die Sanftmut das Salz». Das ist es, was mir gefehlt hat. Das Salz. Ich möchte mich mehr auf das Wesentliche konzentrieren.  Ruhiger und etwas besonnener werden. Sanftmut als höchste Aktivität und befreiendes Handeln zu erleben,  was mir, dessen bin ich sicher, grosse innere Räume und Freiheit erschliessen wird. Irgendwann.

Ich wünsche mir ganz fest, in meinem Innern zu finden, was mich im Aussen mit den Gorillas so berührt hat. Das wäre ein Stück mehr bei mir ankommen. Es heisst ja, Gorillas in freier Wildbahn zu begegnen sei Begegnung mit sich selbst. Sanftmut zu leben und zu erleben, wo die äusseren Herausforderungen fehlen, ist keine Kunst. Die Herausforderung wird wohl darin bestehen, das Gefühl immer in mir zu tragen, egal wie die äusseren Umstände sind.
Diesbezüglich ist der Film «Gorillas im Nebel» nur eine romantische Verfilmung des Lebens von Dian Fossey. Sie lebte verzweifelt für die Gorillas, Menschen waren ihr egal, selbst die Not der Eingeborenen interessierten sie nicht wirklich. Sie war ruppig und barsch mit Fremden, und ihre aus Misstrauen den Menschen gegenüber gewählte Einsamkeit liess sie sonderlich werden.
Ich möchte weder sonderlich werden noch Sanftmut isoliert leben. Sanftmut gehört in die Welt. Darin besteht für mich die Herausforderung. Ob es mir gelingt? Ob es mir gelingt, mich nicht wieder in der äusseren Hektik zu verlieren? Time will tell… Der Weg dahin mag vergleichbar mit dem Weg im Regenwald sein. Aber ich freue mich auf diesen Weg. Und ich erlaube mir, mich zwischendurch auch mal zum Affen zu machen. Ist doch ok?

PS. Ich befürchte, dass dies das über das Jahresmotto 2021 hinausgeht und zum Lebensmotto wird...

Klicken Sie auf das untenstehende Bild... und lassen sich in den Regenwald entführen...viel Spass!