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Corona - vom Stillstand zum Stand

Corona, Wechselbad der Gefühle

Weniger ist mehr: Verlangsamen, entschleunigen, um Dinge und Situationen zu überdenken und neu zu ordnen. Darum geht es doch jetzt, ob ich will oder nicht. Vorhandene Strukturen und Routinen brechen zusammen. Ich brauchte ein paar Tage, um zu realisieren, was da wirklich geschieht. Es kann gut sein, dass ich es noch immer nicht ganz begriffen habe. Nichts ist mehr, wie es war, so scheint es zumindest.

Mit der Coronakrise trifft es nicht einzelne Menschen. Es betrifft uns alle. Und es trifft alle. Jeden anders und anderswo. Auch mich. Normalerweise kann ich gut mit schwierigen Situationen umgehen, ich bin ja krisenerprobt. Die ständige Informationsfülle liessen jedoch meine Gedanken rotieren. Und mich auch. Dies führte mich zu folgendem Entschluss:

Zuerst fühlte ich mich wie in einer Einbahnstrasse, wo es nur vorwärts geht, es aber kein zurück gibt. Die Krise hat so in mein Leben eingeschlagen, dass ich die Stop-Taste gedrückt habe. Nicht um die Thematik zu negieren. Nur, um mich selbst zu orientieren und zu mir zu finden. Zur Ruhe zu kommen, in Ruhe nachzudenken und meine Gedanken zu ordnen. Erst dann konnte ich mich grundsätzlichen Fragen bezüglich der Coronakrise widmen.

Business: Mein Mann gehört zur Risikogruppe. Ich möchte mich deswegen nicht unnötig exponieren. Als Konsequenz davon habe ich die Praxis geschlossen und die laufenden Hypnose-Ausbildungsmodule verschoben. Die Klienten und Ausbildungsabsolventen haben dies sehr gut aufgenommen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ja, es wird finanzielle Einbussen geben, aber nicht solche, welche existentiell sind.

Meine Tätigkeit in Tansania: Dies ist zwar nicht mein Business, aber darin steckt ebenso viel Herzblut wie in meiner Praxistätigkeit. Mich beschäftigt, was in Ländern wie Tanzania geschehen wird, wenn das Coronavirus dort aktiv wird. Unsicherheit und Angst lassen Menschen Dinge tun, welche sie sonst so nicht tun würden. Sich die Hände zu waschen ist nur möglich, wenn Wasser vorhanden ist. Die Menschen leben in engen Verbänden zusammen.
Die Gesundheitssysteme werden kaum in der Lage sein, Patienten mit starken Symptomen zu behandeln. Atemstützgeräte und intensive Betreuung sind in Tansania noch mehr Mangelware als bei uns. Nahrungsmittel sind für viele Menschen schon in „normalen“ Zeiten schwierig zu kaufen, da ihnen die finanziellen Mittel dazu fehlen.

Was mir auch Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass bei uns doch einige Menschen finanzielle Einbussen haben werden. Die Konsequenz davon könnte sein, dass sie die Patenschaften nicht weiter unterstützen. Was sich für die Familien und Kinder in Tansania katastrophal auswirken würde. Ich darf nicht daran denken…

Privat: Wir haben uns privat sehr zurückgezogen. Natürlich vermissen wir den direkten Kontakt zu unseren Kindern und Freunden. Was aber uns aber schwerfällt, ist, dass wir unsere beiden Enkel nicht sehen können. Kein Telefonanruf ersetzt den direkten Kontakt mit ihnen. Es fehlt uns, mit ihnen zu spielen, zu lachen und die Welt zu entdecken.

Danke Decke, dass Du mir nicht auf den Kopf fällst. Zum Glück bin ich ein Mensch, welchem nie langweilig wird. Ich kann mich gut beschäftigen. Mir fehlt es nie an Ideen, sondern eher an Zeit, welche ich nun habe. Ein grosses Privileg ist es, dass ich in einer glücklichen Beziehung und in einem sozialen Umfeld lebe, in welchem ich mich aufgehoben und getragen fühle.

Es ist müssig, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, was mir nun entgeht. Es ist auch sinnlos zu überlegen, ob ich gewisse Unterrichtsstunden über Online-Unterricht anbieten könnte, weil ich das schlicht und einfach nicht kann. Dafür müsste ich mich viel besser mit dem Medium Online-Unterricht auskennen.

Mein Wasserglas ist immer (fast immer) halbvoll, nie halbleer. Dies entspricht meinem Naturell. Das kommt mir nun zugute. Die Krise ist da, ich kann sie nicht wegmachen. Ich negiere sie nicht, aber ich gebe mir feste Zeiten zum Nachdenken oder zum News lesen, weil ich nicht möchte, dass das Virus mich auch noch zeitlich und mental voll in Beschlag nimmt.
Meine/unsere Tage sind ausgefüllt. Lange Wanderungen in der frühlingshaften Natur, weit weg von Menschen, lassen die Seele auftanken. Zuhause kann ich mich mit viel Zeit Dingen widmen, welche ich etwas zurückgestellt habe. Ich tue Dinge, unter anderem banale Dinge, welche ich seit 20 Jahren nicht mehr gemacht habe. Es macht Spass. Und es ist sicher besser, als den ganzen Tag News-Tickers zu verfolgen!

Da gibt es aber schon etwas, was mir nicht einfach fällt: Wir dürfen/sollten nicht mehr selbst einkaufen, da Risikogruppe. Wir müssen fremde Hilfe annehmen, da unsere Kinder nicht gerade ums Eck wohnen und nicht durch die halbe Schweiz reisen können, um uns mit dem Notwendigsten zu versorgen. Menschen, welche wir nie zuvor gesehen haben, kaufen für uns ein und bringen die Esswaren zu uns nach Hause. Ich habe geweint, als sie uns die Sachen brachten. So viel Engagement und soviel Einsatz! DANKE!

Das Virus trifft alle, die Massnahmen auch. Einige jedoch trifft es besonders hart: das sind die Selbständigen und Kleingewerbler. Mir ist es nicht egal, wie es anderen Menschen geht. Ich fühle im Kollektiv und ich trage auch eine Verantwortung für unsere Gesellschaft.

Was ich aber feststelle, ist, dass viele Menschen kreativ werden. Sie stecken nicht einfach den Kopf in den Sand. So eröffnen kleinere Kleidergeschäfte einen Onlinevertrieb, Gärtnereien bringen die Setzlinge und Sträusse nach Hause, Restaurants bieten Menüs über die Gasse an etc. Ein schönes Beispiel ist: Floristen und Gärtner haben Schweiz weit Ortstafeln mit Blumen geschmückt. Schöne Idee, und viel besser, als die Blumen im Geschäft verdorren zu lassen.

Wir stecken im Lock down. Zu Beginn kann man sich noch eine Weile ablenken, aber irgendwann setzt der Retreat ein. Nachvollziehbar, dass sich einige an der Enge der Regeln stossen. Es ist auch menschlich, andere mit kritischem Blick zu beobachten und deren Verstösse zu verzeichnen, als sich den eigenen Ängsten und Unsicherheiten zuzuwenden. Und sich vielleicht auch einzugestehen, dass einem der Verzicht schwer fällt. Wir sind solche Situationen nicht gewohnt. Wir hatten auf alles Zugriff, wir hatten viele Freiheiten, alles schien selbstverständlich.

Dennoch staune ich über Menschen, welche sich lautstark darüber auslassen, dass sie sich nicht einschränken lassen werden und dass sie die Verordnungen und Massnahmen lächerlich finden. Ich möchte nicht in der Situation sein, in welcher ich über Massnahmen entscheiden muss. Egoismus ist die schlechteste Antwort auf eine Krise, wie wir sie gerade durchmachen. Was richtig war, was man hätte besser machen können, werden wir erst nach der Krise wissen.

Mir ist klar; sie haben immer für sich selbst gesorgt. Aber: Sie beanspruchen einen Sitz im Bus und sie fordern generell mehr Rücksichtnahme von Jungen. Jetzt gehören die älteren und alten Menschen zur Risikogruppe. Sie erhalten Hilfe und Unterstützung, welche sie nicht annehmen können/wollen. Irgendwie ist das nicht konsequent. Und irgendwie auch rücksichtslos. Ich erlebe das im direkten Umfeld und finde ihr Verhalten ungut, weil sie die anderen - und auch mich -  gefährden. Auch die alten Menschen haben eine Verantwortung für die Gesellschaft. Denn genau SIE gehören zur Risikogruppe, welche es zu schützen gilt. 

Es liegt nicht alles in unseren gut eingeseiften und geschrubbten Händen. Aber jeder kann jetzt seinen Teil dazu beitragen. Auch ich bin nicht mit allem einverstanden, und habe durchaus meine eigene Meinung. Ich bin auch kein Mensch, der blindlings einer Mehrheit nachläuft.
Jetzt geht es aber nicht um mich, sondern um Solidarität. Jeder von uns möchte gesund bleiben. Jeder von uns hofft auf gute medizinische Versorgung, sollte er krank werden. Ich spreche hier nicht nur von der Corona-Infizierung. Ich spreche von all den anderen kranken Menschen, welche auf gute medizinische Versorgung angewiesen sind. Es könnte morgen auch mich oder Sie treffen…

Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen sind massiv. Das löst in mir grosse Betroffenheit aus und stimmt mich nachdenklich. Wir alle stehen vor einer grossen Herausforderung. Auch ich frage mich, welche Weichen zu stellen sind. Wie gestalte ich den Weg durch die Krise und was kann ich für das tun, was nachher kommt? Und was kann ich für andere nach der Krise tun?

Im Moment versuche ich mit dem neuen Ausnahmemodus zurechtzukommen. Das bedeutet: Entschleunigen, langsamer und bewusster zu werden und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Zeit zwingt mich, uns alle, mit weniger zufrieden zu sein und dem, was wir haben, mehr Wertschätzung zollen. Dabei ist es für mich ein grosser Unterschied, ob ich dies gezwungenermassen mache, um nachher wieder so weiter zu machen wie bisher. Oder ob ich dies freiwillig tue und darin wirklich Qualität erfahre und erlebe.

Die Welt drehte sich immer und bis zuletzt immer schneller. Für mich war immer klar, dass dies nicht endlos so weiter gehen kann. Jetzt steht die Welt fast still, so scheint es. Es mag paradox tönen, aber kann es sein, dass wir gerade die Beschleunigung der Entschleunigung erleben? Ich erlebe mein Leben als verlangsamt, manchmal fast wie in Zeitlupe. Und ich beobachte, dass die Menschen, trotz social distance, näher zusammenrücken. Dass sie sich mehr auf innere Werte besinnen, dass sie umsichtiger werden und erkennen, wie vergänglich und zerbrechlich äussere Werte sind. Dies alles lässt mich in dem Sinn zuversichtlich sein, dass wir menschlich wieder mehr zusammenrücken und gemeinsam Lösungen herbeiführen.

Bleiben Sie gesund!